Im Frühling und Sommer leuchtet die englische Steilküste in strahlendem Gelb, was in einem tollen Kontrast zu den weißen Felsen und dem dunkelblauen Meer steht. Verantwortlich für das Farbenspiel ist der Stech-Ginster, eine robuste Pflanze, die es mit so ziemlich jedem Wetter und Boden aufnehmen kann. Lange war ich ein großer Fan dieser schönen Sträucher, bis ich sie hautnah erleben durfte.

Im Frühtau zur Insel

An einem Spätsommertag hatten wir uns die Isle of Wight als Tagesziel ausgesucht. Sie ist von Bournemouth aus mit dem Zug und der Fähre einigermaßen schnell zu erreichen, gilt als „Good Old England in a Nutshell“ und wirbt mit fantastischen Küstenabschnitten und guten Wandermöglichkeiten. Um sieben in der Früh stiegen wir in den Zug nach Lymington, um von dort mit der Fähre in 40 Minuten nach Yarmouth an der Nordwestküste überzusetzen. Erwachsene zahlen bei Wightlink-Ferries für die Hin- und Rückfahrt 18,20 Pfund. Im Hafen startete die Rundwanderung: 21,5 km lang und mit den berühmten „Needles“ auf halber Strecke. Die drei Felseninseln aus Kreide ragen wenige Meter vor der Westspitze Needles Point aus dem Wasser. Mit ihrem markanten Leuchtturm auf einem der Felsen sind sie sogar vom Strand in Bournemouth aus zu sehen.

Anfahrt mit der Fähre auf Yarmouth, Isle of Wight
Im Hafen von Yarmouth

Needles Everywhere

Soweit möglich folgte der Wanderweg der Küste mit einer tollen Aussicht hinter jeder Biegung: steile Klippen, eine alte Festung, feiner Sandstrand, das Festland in der Ferne, … Ein paar entscheidende Wegweiser haben wir vor lauter Fotografieren wohl übersehen und so standen wir mit einem Mal in einer zubetonierten Vorortsiedlung. Eine Stunde lang stapften wir mit schweren Wanderstiefeln und unter der stechenden Sonne (die Isle of Wight ist bekannt für ihre vielen Sonnenstunden) quer durchs Wohngebiet, vorbei an Campingplätzen und Caravansiedlungen, bis wir unseren Weg endlich wiederfanden – einen schmalen Pfad, der sich nun durch die niedrigen Küstenwälder schlängelte. Immer wieder blitzte das Meer hervor, bis schließlich nur noch eine weite Heidelandschaft zwischen uns und den Needles lag. Und Endspurt … wäre da nicht der Stech-Ginster gewesen. Nach wenigen Metern reichte uns das Meer an wunderschön blühenden Ginsterbüschen bereits bis zum Kinn. Unser Weg war auf weniger als 30 cm Breite geschrumpft. Und jetzt? Nach drei Stunden wieder umkehren? Gibt’s irgendwo eine Umgehung? Natürlich nicht. Seitwärts um Platz zu sparen arbeiteten wir uns durch den stechenden Dschungel. Ein, zwei Schritte vorwärts, dann wieder Bauch einziehen, Arme hoch und Seitenwechsel. Kopf runter, Brombeerranke!

Eine Jeans kann es mit den bis zu 2cm langen Dornen des Stech-Ginsters nicht aufnehmen. Sie bohren sich einfach durch und hinterlassen rote dicke Kratzer. So sahen wir nach 20 Minuten Hindernislauf aus, als hätten wir mit einer Horde wilder Karnickel gekämpft. Der Weg danach war zum Glück ein Kinderspiel, und vermutlich der Grund, warum ich doch keine böse Mail an denjenigen geschrieben habe, der den Weg eigentlich hätte frei halten sollte.

Küstenwanderung auf der Isle of Wight
Needles everywhere, Stechginster auf der Isle of Wight
Blick auf die Needles

Trau keinem Foto

Auf Fotos versprechen die Needles unberührte Natur und spektakulären Meerblick. In der Realität liegt ein Vergnügungspark in Sichtweite zum Besucherzentrum, das den Zugang zu den Needles reguliert. Touristen können per Sessellift vom Bootsanleger in wenigen Minuten hinauf auf die Steilküste gondeln oder sich mit Fahrgeschäften am Strand die Zeit vertreiben. Für einige ist der Lift vermutlich die einzige Möglichkeit, die Gegend zu erleben. Daher halt ich mich mit Kommentaren mal zurück. Dezent in die Landschaft integriert ist die Anlage aber definitiv nicht.

Die zweite Überraschung wartete direkt bei den Needles: So sehr man sich auch anstrengt und Verrenkungen macht, freie Sicht auf die Felsspitzen hat man nur vom Besucherzentrum des National Trust. Die ehemalige Verteidigungsanlage „The Needles Old Battery and New Battery“ verdeckt derart die Sicht, dass man entweder ohne Foto nach Hause geht oder ein Ticket kauft und sich durch schmale Tunnel und enge Wendeltreppen bis zur Aussichtsplattform vorarbeitet. Insgesamt schon ein kleines Abenteuer und geschichtlich sehr interessant. National Trust-Mitglieder haben freien Eintritt.

Blick auf die Needles

Zweite Etappe über Tennyson Down und freshwater

Mit dem Foto in der Tasche und einem Sandwich im Bauch stand für uns die zweite Hälfte unserer Tagestour an, weitere 10,5 km über Tennyson Down, Freshwater Bay und Freshwater nach Yarmouth. Wer hatte die Route nochmal ausgesucht…? Bei sturmartigen Böen (natürlich Gegenwind) stapften wir den breiten Wiesenweg des Tennyson Down hinauf. Mit Strickmütze und Kapuze über der Mütze, damit es durch die Maschen nicht so in die Ohren pfeift, sahen wir aus wie Expeditionsteilnehmer am Nordpol. Am höchsten Punkt des grasbewachsenen Kreidekamms steht 147 m über dem Meeresspiegel das Tennyson Monument. Das Gipfelkreuz ist dem berühmtesten Dichter der Isle of Wight gewidmet, Alfred Lord Tennyson, der jeden Tag von seinem Haus in Freshwater auf den Hügel spazierte – kein Wunder bei der Aussicht: bis zur Jurassic Coast mit den Old Harry’s Rocks in die eine Richtung und auf die Bucht Freshwater Bay und die weißen Klippen von Headen Warren in die andere.

Blick vom Tennyson Down
Freshwater Bay

Der kleine Ort Freshwater Bay liegt am Fuß des Hügels an einem sehr einladenden breiten Kiesstrand. Meine Plattfüße hätten nach den vielen Kilometern ein kühles Bad gut vertragen können. Allerdings mussten wir um 17 Uhr die Fähre in Yarmouth erwischen und bis dahin war es noch ein gutes Stück. Ohne Pause und im Stechschritt ging es daher am Straßenrand und auf Feldwegen weiter nach Easton und Freshwater, und dann etwas idyllischer am River Yar entlang nach Yarmouth. Von der fotogenen Fluss-und Wiesenlandschaft haben wir nicht allzu viel mitbekommen. Marschieren und Tempo halten stand eindeutig im Vordergrund. Und mit jedem Fotostopp war es schwerer, die müden Knochen wieder in Gang zu kriegen. 15 Minuten vor Abfahrt der Fähre waren wir im Hafen. Die Punktlandung zeugt von phänomenalen Planungsfähigkeiten oder ziemlichem Glück. Sie hat uns aber definitiv um das wohl verdiente Abendessen im Pub direkt am Hafen gebracht. Heute bleibt die Küche kalt…

Fazit: Eine landschaftlich in weiten Teilen sehr schöne Rundtour mit nur wenigen Höhenmetern. Diese Route auf viewranger entspricht etwas unserer Strecke. 21,5km sind kein Spaziergang und ein paar zusätzliche Pausen wären sicherlich kniefreundlicher gewesen. Dann hätten wir auch noch Zeit gehabt für einen Afternoon Tea mit Meerblick in einem der Hotels oberhalb des Strands in Freshwater Bay oder einfach um im Meer eine Runde Schwimmen zu gehen. Ein Taxi zurück zum Hafen hätte sich bestimmt organisieren lassen. Nächstes Mal dann…

Auf einen Blick:
Länge der Tour: 21,5 km
Fähre: Lymington – Yarmouth (18,20 Pfund Return-Ticket)
Etappenziele: The Needles Old and New Battery – Tennyson Down – Freshwater Bay